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„Hallo, ich habe ADHS und brauche klare Fristen“, sagt ein Mitarbeiter über die Neurodiversität im Arbeitsleben


Nur eine Woche hat es gedauert, dann war die Sache klar und konnte geregelt werden. „Unsere neue Mitarbeiterin hat gesagt: Hey, ich habe ADHS, deswegen brauche ich ganz klare Deadlines und regelmäßige Feedbacks von euch, sonst lasse ich mich zu leicht ablenken.“

Jacqueline Leppelt ist stolz darauf, dass das in ihrer Firma so möglich war. „Die Mitarbeiterin hat sich sicher gefühlt und konnte offen über ihre Neurodivergenz sprechen“, sagt Leppelt, Beraterin für Vielfalt und Inclusion bei der Unternehmensberatung ICUnet. „Dann können sich die Kolleg:innen darauf einstellen, und es entstehen keine Missverständnisse oder Spannungen.“

Häufig ist es so, dass neurodivergente Menschen sich maskieren.

Jacqueline Leppelt, Beraterin für Vielfalt und Inclusion

Vor allem für die Kollegin selbst ist es eine Erleichterung, sich nicht verstecken oder verbiegen zu müssen. „Häufig ist es so, dass neurodivergente Menschen sich maskieren“, sagt Leppelt. „Sie möchten ,normal’ erscheinen. Wenn aber ihre besonderen Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, bleiben sie unter ihren Möglichkeiten und können ihr Potenzial nicht entfalten.“ Langfristig drohen Burn-out und Depression.

„Neurodivergent“, das sind Schätzungen zufolge 15 bis 20 Prozent aller Arbeitnehmenden. Je nach Definition fallen darunter Menschen mit ADS/ADHS, Dyslexie und Dyskalkulie, Autist:innen, aber auch hypersensitive oder hochbegabte Menschen. Im Unterschied zu „neurotypischen“ Menschen haben sie eine andere Art, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten oder Gefühle auszudrücken als die Mehrheit.

Die Übergänge zum ,Normalen‘ sind fließend, denn „neurodivers“ sind wir schließlich alle – jedes Gehirn ist einzigartig, für bestimmte Aufgaben besonders gut oder weniger gut geeignet. Eine andere Kollegin von Leppelt etwa hat eine diagnostizierte Dyskalkulie: Rechnen kann sie schlecht, „aber sie ist besonders kreativ“. Die besonderen Fähigkeiten, die neurodivergente Menschen mitbringen, kann ein Unternehmen für sich nutzen.

Unter dem Schlagwort „Neurodiversität“ wird in den letzten Jahren verstärkt darüber diskutiert, wie Menschen mit unterschiedlichen Prägungen im Arbeitsleben Erfolg haben können. Das merkt Jacqueline Leppelt an den Anfragen, die sie erreichen. „Noch vor zwei, drei Jahren war das ein Nischenthema“, sagt sie.

Schon Kopfhörer können helfen

ICUnet berät Unternehmen, die sich diverser aufstellen oder in ihrer Belegschaft Konflikte, Fluktuation, Abgänge, Ungerechtigkeiten vermindern möchten. „Dabei geht es um interkulturelle Kompetenzen, geschlechtliche Vielfalt, aber zunehmend auch um Neurodiversität. Mir scheint: Deutschland ist jetzt bereit für das Thema.“

Das übergeordnete Ziel ist es, allen Mitarbeitenden so viel Flexibilität in Arbeitszeit, -ort und -weise zu ermöglichen, dass sie sich optimal einbringen können. Ein hypersensitiver Mitarbeiter etwa, der Geräusche, Gerüche, Gespräche besonders intensiv wahrnimmt, leidet in einem Großraumbüro – er braucht ein Einzelbüro oder viel Zeit im Homeoffice, oder zumindest Kopfhörer mit Noise cancelling.

„Oft sind es Kleinigkeiten, die Erleichterung verschaffen“, sagt Jacqueline Leppelt. Die Mitarbeiterin mit ADHS beispielsweise hat bestimmte Tagesphasen, in denen sie sich gut konzentrieren kann, und andere, in denen es ihr schwerfällt. Ihr Arbeitspensum lässt sich darauf abstimmen: Was sie nachmittags nicht schafft, erledigt sie abends.

„Manual of me“: eine Gebrauchsanleitung

Jacqueline Leppelt empfiehlt eine ganz einfache Maßnahme, die nichts kostet und allen nützt: das „Manual of me“, eine Art Gebrauchsanleitung meiner selbst. Darin kann jede:r Mitarbeitende festhalten, wie er oder sie am liebsten arbeitet. Wann arbeite ich am produktivsten, wie möchte ich erreicht werden, wie möchte ich Feedback bekommen? „Wenn alle das Manual ausfüllen, muss keiner draufschreiben, ich habe ADHS oder bin Autist. Das ist eine kleine Sache mit großer Wirkung.“

Selbst entscheiden, wie man dargestellt wird: Neue, andere Bilder von neurodivergenten Menschen sind notwendig.

Selbst entscheiden, wie man dargestellt wird: Neue, andere Bilder von neurodivergenten Menschen sind notwendig.

© Getty Images/Paff Evara

Für den Bewerbungsprozess ist wichtig, dass Personalverantwortliche entsprechend geschult sind. „Wenn ein Bewerber im Gespräch keinen Augenkontakt halten kann, weil er Autist ist, kann er trotzdem für einen IT-Job besonders geeignet sein“sagt sie. „Das ist also kein Grund, ihn auszuschließen.“

Firmen, die ihren Bewerberkreis vergrößern und neurodivergente Kandidat:innen ansprechen möchten, sollten das schon auf ihrer Webseite deutlich machen. Hier kommt die Bildsprache ins Spiel. Fühlen sich potenzielle Bewerber:innen davon angesprochen? Gibt es überhaupt Bilder, die neurodivergente Menschen positiv darstellen und die Firmen nutzen können?

Rebecca Swift, Senior Vice President Creative bei Getty Images, hat festgestellt: „Häufig werden zum Beispiel Autisten stereotyp dargestellt, meist als weiße junge Männer, die isoliert im Raum sitzen. Dabei gibt es auch Frauen oder nicht-binäre Personen mit Autismus. Neurodivergenz ist sehr bunt und vielfältig, bleibt aber oft unsichtbar.“

Getty Images hat sich daher zusammen mit der Autistenbewegung #AustisticOutLoud zum Ziel gesetzt, neue Bilder zu schaffen, die eine größere Bandbreite von Menschen abbilden. Dafür arbeitet die Agentur unter anderem mit Autist:innen zusammen. Sie sollen selbst entscheiden, wie sie dargestellt werden möchten – und machen es so auch ihren Kolleg:innen und Arbeitgebenden leichter, sie zu verstehen und ihren Bedürfnissen entsprechend zu behandeln.

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Author: Justin Cortez

Last Updated: 1703483881

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